Burkhard Schade, Jahrgang 1959, ist seiner fotografischen Leidenschaft über Jahrzehnte treu geblieben, über alle gesellschaftlichen und technischen Umbrüche hinweg. Seinen aufmerksamen Blick richtet er nun genau auf dieses Thema: Die Geschichte als Prozess sichtbar zu machen, als Werden, Verändern, Vergehen.
Seltsam entrückt sind die Hinterlassenschaften, die er in seiner Reihe „Farben des Verfalls“ vorstellt. Die Bewohner vergangener Zeiten haben ihre Spuren hinterlassen und in übereinanderliegenden Schichten aufgetragen. Nun, am Lebensende, geben die Gebäude ihre Historie preis, Schicht für Schicht und Geschichte für Geschichte. Die Substanz zerfällt, nein: Sie geht würdevoll dahin. Ein skurriler Zustand stellt sich ein, ein Dasein zwischen allen Zeiten.
Der Ort ist vermeintlich herrenlos, und so wird dem Besucher kein Willkommen entboten. Gewährt wird bestenfalls die Gnade eines Besuches am Sterbebett. Es findet sich kein absichtsvolles Präsentieren, nicht Geleit noch Orientierung – deshalb kann der Besucher sich auch nichts zu eigen machen. Die Gebäude sind leere Hüllen und werden so erst „lesbar“: Kein gegenwärtiger Nutzungszweck stellt sich der Suche nach den Projektionen der Historie entgegen. Denn dies ist eine Subduktionszone – Gewesenes wird aufgeschmolzen und bleibt in willenlosen Fragmenten im Raum zurück.
Die verlassenen Bauten sind alltagsfern, nur verdünnte Echos des Lebens dringen ein. Der Besucher ist Eindringling, sein Atem und seine Schritte füllen die Räume, unter den Sohlen knirscht zerborstenes Glas. Fern schlägt der Wind Türen und Fenster gegen die Wand, flattern Vögel aus ihrem Versteck auf. Der Blick irrt über die Hinterlassenschaften von Epochen, die an Wänden, auf Böden und Decken, in Treppenhäusern dahindämmern. Es ist ein Besuch in der vierten Dimension, in der die Zeit im Raum auf einen Punkt zusammengestaucht ist. Geschichte bietet sich als skurriles Schattentheater dar.
Das Nicht-Sein greift nach der Phantasie des Betrachters – in Fiktionen, die einstigen Bewohner betreffend. Und es gemahnt an das Unvermeidliche, das Ewige: Alles endet.
Die Heilstätten in Beelitz wurden zwischen 1898 und 1930 errichtet. Von den ehemals 60 Gebäuden sind viele im finalen Dämmerzustand und berichten leise von ihrem Anfang als Lungenheilstätte, der Nutzung als Lazarett im Ersten und Zweiten Weltkrieg schließlich der Okkupation durch die Rote Armee, deren Abzug das Schicksal des Ensembles vorerst besiegelte.
Burkhard Schade stattete Beelitz mehrere Besuche ab, fasziniert vom Zusammenwirken großzügiger Architektur und morbider Farbigkeit. Seine Wege brachten ihm auch die verborgenen Ecken und Details näher, die sich erst auf den zweiten Blick offenbaren. Die Stille und Ausstrahlung des Ortes haben es ihm angetan, und seine Bilder spiegeln seinen Respekt gegenüber den Gebäuden und ihrer Geschichte. Nicht nur die Bausubstanz, auch die Beschriftungen und Einrichtungsgegenstände, die Farben und Tapeten erweckt er zu Zeitzeugen und bringt sie mit seinen Bildern zum Sprechen. Es ist wie ein Nachhall aus ferner Zeit.
LUTZ BENKE „Subduktionszone“ zu Burkhard Schades Zyklus »Farben des Verfalls« 2010